MobB e.V. Unerwartete Begegnungen

Unerwartete Begegnungen
Neue Texte der Jenaer Sprachverwender


2017

edition winterwork
ISBN: 978-3-96014-393-2

Leseprobe



Bettina Grumbach
Sand


Ich war ein Sandkorn auf dem Boden
der eure Füße trug
ich passte mich euren Tritten an
und beugte mich eurem Pflug.

Ihr machtet eine Grube
und hobet mich hinweg
ihr habt mich aussortieret
zum Leben ohn' Sinn und Zweck.

Der Wind, er blies mich weiter
und so wurde ich dann
der Sand in eurem Getriebe
der alles aufhalten kann.

Es knirscht in eurem Getriebe
die Zahnräder fassen nicht mehr
die Ketten, sie spannen gefährlich
ich mache mich breit, mach mich schwer.

Werd' Widerstand euch bieten
so lang und so schwer ich's vermag
ich bin der Sand im Getriebe
bis eure Maschine versagt.



Hans Deubel
Krimikommisar Hans von Kahla


Wenn Hans in seiner "Tatort-Klause" sitzt, fallen ihm spontan Themen für Fernsehkrimis ein. Bei den Ausschreibungen zum ersten Erfurt-Tatort hat er sich mit drei Drehbuchvorlagen beteiligt.
In seinem Garten in Kahla hat Hans ein ABV-Zimmer mit einem kleinen privaten Polizeimuseum: Die "Tatort-Klause". Das ist das richtige Umfeld zum Krimi-Schreiben. Hans hat sich umfangreiches Insiderwissen angeeignet, er besitzt eine beachtliche Uniformsammlung, kennt von 1990 bis heute alle Innenminister von Thüringen - nicht nur durch Schriftverkehr, auch persönliche Gespräche hat er mit den meisten geführt.

Die neue Polizeiuniform von Thüringen hatte Hans schon eher als die Polizei in Jena. Beim Filmdreh zu einem Banküberfall am JenTower spielte er einen Hauptkommissar. Da wurde Hans völlig unerwartet mit einer Diensteinheit der Jenaer Polizei konfrontiert. Der Grund war eine Informationspanne: Die Polizei wusste nichts von dem Filmdreh! So wurde eine Kriminalkomödie zum ersten Tatortkrimi in Jena: Ein unbekannter Hauptkommissar in Originaluniform, mit einer Maschinenpistole und Blaulicht auf einem Zivilfahrzeug steht einem echten Oberkommissar und der bewaffneten Besatzung von sechs Blaulichtwagen gegenüber! Die Gefahrenlage war brisant, zum Glück fielen keine Schüsse!

Eines Tages sah Hans bei Dreharbeiten einen Bratwurstrost an einer Baustelleneinrichtung qualmen. Spontan sagte er zum Einsatzleiter: "Bei mir geht der Krieg erst los, wenn wir Thüringer Rostbratwurst gegessen haben."
Zielgerichtet ging Hans, in kompletter SEK-Uniform inklusive Maschinenpistole, in Richtung des Bratwurstrostes. Der Geruch war schon sehr verführerisch. Als die Anwesenden Hans in seiner Uniform kommen sahen, wurde es plötzlich hektisch: Die Bauarbeiter verschwanden in alle Himmelsrichtungen, einige sprangen sogar aus dem Fenster der Baustelleneinrichtung und rannten weg. Die Baustelle war plötzlich wie leergefegt! Die Fremdarbeiter vermuteten sicher eine Razzia der Zollfahndung.
Nun war guter Rat teuer: Hans stand vor dem Rost mit den leckeren Bratwürsten und keiner war da, der sie ihm verkaufen konnte. Als Polizist sich einfach selbst zu bedienen, kam für Hans nicht in Frage, also musste er unverrichteter Dinge zurück zum Drehort. Am Set hatte er natürlich die Lacher auf seiner Seite.

Als Hans erfuhr, dass zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Mödlareuth, am ehemaligen Grenzstreifen, eine Einheitsfeier stattfinden sollte, war ihm sofort klar, da musste er dabei sein! Er war immerhin zehn Jahre als Zivilangestellter bei den Grenztruppen der DDR und kennt im ehemaligen Sperrgebiet jede Grenzkompanie im Kommandobereich Süd und Mitte, von Römhild bis Berlin, wie seine Westentasche. Hans hatte in all den Jahren die Atomwarnanlagen der Grenztruppen eingebaut und betreut und deshalb berufsbedingt überall Zutritt. Auf Grund dessen war sein Insiderwissen über Sperr- und Schutzstreifen sowie Führungspunkte sehr umfangreich.
Es gab keine Frage, Hans musste nach Mödlareuth und sich die Reste von Mauer und Stacheldraht ansehen. Aus seiner Uniformsammlung wählte er eine Major- Grenzpolizeiuniform mit Kalaschnikow und fuhr mit seinem restaurierten Grenzpolizei-Trabant, natürlich mit gültiger Straßenzulassung, zur Einheitsfeier. Als Hans mit seinem grünen Trabbi mit Blaulicht und Sirene im Dorf einfuhr, wurde er von keinem der Besucher übersehen.
Er war neugierig, wie die Grenzmuseums-Besucher aus Ost und West 20 Jahren nach der Grenzöffnung auf einen Grenzpolizei-Major reagieren und war überrascht über das Interesse und die Freundlichkeit der Bayern. Sie waren sehr aufgeschlossen und stellten wissbegierig Fragen über die DDR-Grenzsicherungsanlagen. Auf Grund seines Insiderwissens waren sie bei Hans natürlich an der richtigen Stelle. Viele baten um ein Selfie mit ihm vor seinem Grenzpolizei-Trabant mit dem originalen DDR-Wappen.
Auch die Ossis aus dem ehemaligen Sperrgebiet waren sehr aufgeschlossen. Einige ehemalige Grenzer machten sogar freundlich die Ehrenbezeugung.
Wenn er gefragt wurde, wo er denn herkomme, konnte es sich Hans nicht verkneifen, seinen obligatorischen Spruch loszulassen: "Ich bin Major Hans von Kahla".



Margit Ursula
Das Tor


Kein Haus gebaut, keinen Baum gepflanzt, keinen Sohn gezeugt - von den drei Dingen, die ein Mann in seinem Leben tun sollte, hat er nichts, aber auch gar nichts geschafft. Zum Hausbau fehlte immer das Geld, um einen Baum zu pflanzen die Gelegenheit, um einen Sohn zu zeugen fehlte...
Nun, wenn sie ihn nicht verlassen hätte...
Wer weiß, vielleicht hätte er dann wenigstens eine der drei Aufgaben erfüllen können.
So lief er denn weiter durch den Nebel. Den Kopf gesenkt, den Kragen hochgeschlagen. Nun war es dazu zu spät. Seit langem zu spät. Eben zu spät.
Wenn sie damals doch nur ein anderes Reiseziel genannt hätte, so wäre er nicht in der Pflicht gewesen. Aber mit seinem Titel und in seiner Position war es einfach unmöglich, die Flitterwochen in Bremerhaven zu verbringen. Das gesamte Team hätte sich über ihn lustig gemacht. Und bei den alljährlichen Veranstaltungen der Selbstbeweihräucherung hätten die vertrockneten Truden der Büroetage seine Liebste mit bedauernder Herablassung behandelt, als Frau eines Geizhalses. Damals legte er noch Wert auf eine Anerkennung, die ihm heute mehr als fragwürdig erscheint. So suchte er die verschiedensten Reisebüros auf. Allein. Wollte sie überraschen.
In einem wurde er fündig. Etwas für Individualreisende. Mit einem Beutel voller Informationsmaterial verließ er das Ladenlokal. Sie würden all das genießen können, was für beide einen Urlaub ausmachte: Kultur, Abenteuer, Natur und gute Hotels. Zögernd hatte sie zugestimmt.
Letztendlich nur, weil er sie daran erinnerte, dass er ihr zuliebe eine Kirche betreten würde, damit sie den Segen des Pfarrers bekäme. Ihre Erwiderung klang noch deutlich in seinem Ohr. "Es ist der Segen Gottes. Und er ist für uns beide."
So fuhren sie also nach Zeremonien und Festlichkeiten über Rotterdam nach Thorshavn, bestiegen dort samt benzinschluckendem Freund und Gefährten die einzige Autofähre nach Seidisfjördur. Zwei Nächte blieben sie dort in dem blau-weiß gestrichenen Hotel, fuhren trotz des rauen Wetters mit dem Kajak auf den Fjord hinaus, wanderten im schmelzenden Schnee. Der Frühling wollte Einzug halten und grüßte sie mit vereinzelten Sonnenstrahlen. Ihr Glück war vollkommen. Dann brachte der kleine Geländewagen sie nach Höfn. Es war eine Tagestour geworden, denn immer wieder musste er halten, weil es etwas zu sehen gab. Hand in Hand erkundeten sie die bizarre Landschaft kurz unterhalb des Nordpolarkreises. Sie aßen Lamm. Sie bezeichnete das Gericht als Goulasch, er als Ragout. Dann einigten sie sich. Egal der Name, es war lecker.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Am Fuß des Vatnajökulls sollte es eine Verleihstation geben. Für Schneemobile. Geeignet für eine Gletschertour. Am Spätnachmittag sollte es zurück nach Höfn gehen, damit sie am nächsten Morgen Richtung Reykjavik aufbrechen könnten.
Doch alles sollte anders kommen. Die Insel aus Feuer und Eis zu umrunden...
Seine Gedanken schweiften weiter in die Vergangenheit, währenddessen seine Füße in der Gegenwart voranschritten. Durch den Nebel. Ohne bestimmtes Ziel.
Er legte die Kronen auf den Tresen. Erhielt eine Quittung dafür, worauf auch die Notrufnummer stand. "Sobald sich die Wolken zuziehen, müssen Sie den Rückweg antreten." Dieser Hinweis, in tadellosem Englisch gesprochen, erreichte ihn mitsamt Papier, Wechselgeld und Schlüsseln. Nach mehreren unbeholfenen Versuchen bockten die Fahrzeuge nicht mehr. Und die zwei Liebenden strebten dem Gipfel des Vatnajökulls entgegen. Die Pisten waren gut sichtbar. Die Sonne glitzerte auf dem Eis, wenig später, als sie die Höhen erreichten, auch im frisch gefallenen Schnee. Die Luft war klar, die Aussicht großartig, die Wolken klein und in weiter Ferne. Keiner Beachtung wert.
Die Gletscherkuppe war bereits greifbar nah, als sie ihr Schneemobil stoppte. Als er Augenblicke später auch hielt, trafen ihn Schneebälle. "Jeder Schneeball, der dich trifft, ist ein Kuss in der Ewigkeit von mir! Ich liebe dich!" Das war das Letzte, was er von ihr hörte. Dieses: "Ich liebe dich!"
Der Sturm kam von jetzt auf gleich. Die Sonnenstrahlen waren zwar weniger geworden, doch noch immer war es hell. An den Blick zum Himmel hatte keiner gedacht. Und nun entluden sich die Wolken. Der Wind wirbelte den auf dem Eis liegenden Schnee auf. Die Hand war nicht mehr vor Augen sichtbar. Die Macht der Naturgewalten ließ ihn über die vom Schnee freigewehten Flächen rutschen. Die Rufe nach seiner Frau riss ihm der Sturm von den Lippen.
Etwas Kratzendes weckte ihn. Plötzlich spürte er die Last auf seinem Rücken. Und die Kälte, die seinen Kör-per einschloss. Und die Luft, die frische, die sich Platz in seinen Lungen suchte.
Er erwachte in einem Krankenzimmer. Erkannte es am Geruch. Ein rundes Gesicht beugte sich über ihn. "Schön, dass Sie wieder da sind." Das Deutsch war gebrochen, aber verständlich. "Wie geht es meiner Frau?", war seine erste Frage.
"Sie ist nicht gefunden worden."
Seither verbrachte er jedes Jahr den Urlaub am Vatnajökull. Auf der Suche nach ihr. Obwohl er nach sieben Jahren sie hätte für tot erklären lassen können, er tat es nicht. Ohne Leichnam kein Grab.
Die zunehmende Dunkelheit hatte er nicht bewusst wahrgenommen. Die Laternen standen in immer größeren Abständen am Straßenrand. Als er auf ein geöffnetes Tor aufmerksam wurde. Es war schmiedeeisern. Barock? Neobarock? Er erkannte es nicht. War auch egal. Denn das dahinter flutende Licht schien die Nebelschwaden durchbrechen zu wollen. Und zog ihn magisch an. Er durchschritt das Tor, lief die scheinbar endlose Allee entlang, bis er auf ein Herrenhaus traf, dessen Alter zu bestimmen ihm wieder das Interesse fehlte. Denn seinen Blick fesselte die Person, die die Stufen schwebend schreitend herunter glitt. Die die Arme ausbreitete. In die er sich flüchtete. "Ich habe auf dich gewartet. Ich liebe dich."


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