MobB e.V.

Menschen ohne bezahlte Beschäftigung - Hilfe & Selbsthilfe e.V.

Teilhabe von Menschen mit geringem Einkommen - am Beispiel Jenas

Einführung

In unserem im Jahr 2010 abgeschlossenen Interview-Projekt "Mensch sein ohne Arbeit?" lautete eine Frage, ob mit den Hartz-IV-Regelsätzen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich sei. Dies war von der Mehrzahl der Interviewten verneint worden.
In gleichen Jahr mussten die Regelsätze aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes überprüft werden. Ein zentrale Forderung der Richter lautete, dass die Regelsätze ein "menschenwürdiges Existenzminimum" ermöglichen sollen, welches nicht nur die "physische Existenz des Menschen, also "Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit" umfasst, sondern "auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben".
Diese Forderung führte uns zu der Frage, was ein Mindestmaß an Teilhabe eigentlich bedeutet. Außerdem wollten wir wissen, wie es gegenwärtig um die Teilhabe von Menschen mit geringem Einkommen in Jena bestellt ist.
Dies wollten wir mit Hilfe einer Befragung untersuchen. Der dazu von uns erarbeitete Fragebogen umfasste insgesamt 54 Fragen, da wir uns auch einen Gesamteindruck vom Leben der Befragten verschaffen wollten. So ging es uns nicht nur um Geschlecht, Alter, Familienstand, Schulabschlüsse und Erwerbsstatus, sondern auch um den Fernsehkonsum, das Leseverhalten und die Nutzung des Internets. Neben Fragen zum Besuch von Theater und Konzerten gab es auch solche nach Hobbys, Haustieren, den Besuch von öffentlichen Veranstaltungen sowie der Mitarbeit in Vereinen.
Von März bis Juni 2011 lagen die Fragebögen im Verein aus und die Besucher/innen wurden gebeten diesen auszufüllen. Insgesamt konnten wir auf 141 ausgefüllte Bögen mit ca. 7600 Einzeldaten zurückgreifen.
Dabei gab es bei der Frage der Teilhabe am kulturellen Leben ein erstes, für uns unerwartetes Ergebnis: beim Vergleich mit der bundesweiten Statistik zum Besuch von Theater und Konzerten ergab sich, dass die von uns befragten Menschen mit geringem Einkommen nicht weniger Kultur genießen als der durchschnittliche Deutsche.
Ähnliches zeigte sich beim Lesen von Büchern und Periodika oder der Nutzung der Abbe-Bücherei. Die Umfrage ergab außerdem bei Hobbys und Interessen ein ausgesprochen vielgestaltiges Bild. Wo ein statistischer Vergleich möglich war - etwa bei Haustieren - zeigte sich, dass sich das Leben der von uns Befragten auch hier nicht wesentlich vom Durchschnitt unterscheidet. Eine Ausgangsthese für das Projekt war jedoch, dass der Bezug der Sozialleistung Hartz IV keine ausreichende Teilhabe ermöglicht, so wie das auch in den Stellungnahmen zum Beispiel der Wohlfahrtsverbände zum Ausdruck kommt.
Wir überprüften daraufhin noch einmal den Fragebogen und stellten fest, dass wir Teilhabe sehr eng gefasst und im Wesentlichen auf Kultur bezogen hatten.
Wir hatten - zum Beispiel - nicht gefragt, wie oft die Befragten eine Gaststätte besuchen, wie viel Geld sie für Kleidung ausgeben oder wann sie das letzte Mal Einrichtungsgegenstände für ihre Wohnung gekauft haben oder in den Urlaub gefahren sind. Das führte uns schließlich zu der Frage, was Teilhabe eigentlich ist. Dabei mussten wir feststellen, dass wir uns im Wesentlichen auf die Aussagen zur Teilhabe im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Regelsätzen bezogen hatten, während der Begriff Teilhabe sehr stark auch in anderen Kontexten (Teilhabe von behinderten Menschen, politische Partizipation) genutzt wird und eine sehr differenzierte Diskussion zur Teilhabe existiert.
Obwohl wir zu Beginn des Projektes zu wissen glaubten, was Teilhabe ist, mussten wir feststellen, dass es sich insgesamt um einen sehr unbestimmten Begriff handelt.
Um die Diskussion einzugrenzen, beschlossen wir zunächst, uns auf die heutigen Verhältnisse in Deutschland zu beschränken, wobei uns dann die Frage beschäftigte, ob sich Teilhabe in irgendeiner Weise messen lässt. Bedeutet sie - zum Beispiel - am Wohlstand der Gesellschaft beteiligt zu sein? Gibt es eine absolute Teilhabe oder sollte sie relativ zu den gegebenen Verhältnissen betrachtet werden?
Einige Antworten fanden wir in den Veröffentlichungen zum Thema, vor allem in soziologischen Arbeiten. Wir waren bei ersten Überlegungen von einer Unterscheidung in "ökonomische" und "nichtökonomische" (ohne Geld realisierbare) Teilhabe ausgegangen, beschäftigten uns aber mit der in der Soziologie üblichen Unterteilung in vier Teilhabeformen (Erwerbsarbeit, soziale Nahbeziehungen, politische und soziale Rechte sowie Kultur). Diese Teilhabeformen weisen deutliche Unterschiede auf, da es sich zum einen um allen Bürger/innen garantierte Rechte (Wahlrecht, Grundsicherung u.a.) handelt, zum anderen um Möglichkeiten, die nicht alle Menschen wahrnehmen können, weil sie nicht gesetzlich garantiert sind (Erwerbsarbeit) oder finanzielle Mittel erfordern (Kunstgenuss). Außer dieser objektivierbaren Teilhabe gibt es die mehr subjektive, individuelle Teilhabe (soziale Nahbeziehungen, informelle Arbeit und anderes mehr).
Daraus ergibt sich, dass die Teilhabe in der Gesellschaft, in der wir leben, unterschiedlich sein muss. Worin bestehen die Unterschiede und wie werden sie empfunden? Dies war jedoch nicht Gegenstand der Befragung und könnte in einer möglichen späteren Untersuchung erfragt werden.
Durch die Lektüre unterschiedlichster Arbeiten und die intensiven Diskussionen gelangten wir zu sehr interessanten Erkenntnissen zur Teilhabe, von denen sich einige in den nachfolgenden Kapiteln wiederfinden.
Die Darstellungen zum Thema erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sollen vor allem zur Einführung dienen. Daher ist der Auswertung der Befragung eine "doppelte" Einleitung vorangestellt: zunächst geht es um den Begriff der Teilhabe, die Geschichte seiner Nutzung in Politik und Wissenschaft, vor allem aber um die Bedeutung des Teilhabebegriffes in der soziologischen Forschung. Im zweiten Teil der Einführung wird die Diskussion kritisch betrachtet und mit dem Abschnitt zum "Dritten Arbeitsmarkt" die Darstellung einer Alternative angeboten.
Die Auswertung unserer Befragung beginnt mit dem Profil der Befragten (Geschlecht, Alter, Familienverhältnisse, Berufabschluss, Erwerbstatus), gefolgt von Gewohnheiten und Aktivitäten. Die Teilhabe ist unterteilt in die Teilnahme am öffentlichen sowie am kulturellen Leben und das bürgerschaftliche Engagement.
Zur Auswertung wurden vorhandene bundesweite Statistiken sowie Angaben der Stadt Jena herangezogen. Zugleich wurden die Ergebnisse mit den von uns im Vorfeld der Befragung aufgestellten Thesen verglichen.
Den Abschluss des Buches bildet der Versuch, die Ergebnisse des Projektes zusammenzufassen.

Beate Jonscher
Sabine Müller
Helmut Lange

Jena, im November 2013
Teilhabe-Befragung.
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